Der Tannenbaum

Es war an einem wunderschönen, sonnigen Tag im Spätherbst. Die kleine Tanne auf der Lichtung streckte ihre Äste und ließ sie vergnügt vom Wind leicht hin und herwiegen. Nur ein paar Schritte von ihr entfernt begann der dichte Wald. Dort drängten sich die Tannen so nah aneinander, daß ihre unteren Äste alle ganz dürr waren, weil die Sonne mit ihren Strahlen gar nicht bis zum Boden gelangte. Hin und wieder hatte sich ein Laubbaum dazwischengesellt, aber der war jetzt auch schon fast kahl. Ja, im Sommer da war er sehr schön mit seinen großen grünen Blättern, selbst vor kurzem noch als die Blätter sich bunt gefärbt hatten, war er hübsch anzusehen gewesen, aber mittlerweile reckte er nur noch seine leeren, braunen Äste von sich, und machte einen beinahe erbärmlichen Eindruck.

Da hatte es die kleine Tanne im Vergleich schon sehr gut. Die Sonne konnte sie zu jeder Tageszeit und damit von allen Seiten erreichen, was bewirkt hatte, daß die Tanne ein ebenmäßiger, schön gewachsener Baum geworden war. Sie war fast schon so groß wie etwa ein angehender Teenager und fühlte sich an ihrem Platz sehr wohl.

An diesem Tag aber äugte sie neugierig und gespannt in die Ferne. Dort hinten hatte sie die Waldarbeiter entdeckt, und sie wußte genau, was diese vorhatten. Sie streiften umher und markierten die schönsten Tannen, um sie bald schon für Weihnachten zu fällen.

"Was meinst du, ob ich in diesem Jahr dabei bin?" fragte die kleine Tanne aufgeregt ihre Nachbarin, eine der großen alten Tannen direkt am Waldrand. "Du hast doch schon so viel gesehen und erlebt, glaubst du, ich bin schön genug, um ein Christbaum zu werden?"

Die alte Tanne wiegte leicht ihren Wipfel und schaute nachdenklich auf den kleinen Baum herab. "Ebenmäßig gewachsen bist du wirklich, wenn du Pech hast, wählen sie dich aus."

"Wieso Pech?" protestierte die kleine Tanne, "ich warte schon lange darauf. Dort drüben im Forsthaus hinter dem Wohnzimmerfenster sehe ich jedes Jahr einen Christbaum. Er ist so wunderschön festlich geschmückt mit all den Lichtern, den bunten Kugeln und den vielen Kleinigkeiten daran. Ich möchte auch einmal ein Christbaum werden."

"Wie kann man nur so dumm sein," seufzte die alte Tanne. "Weißt du, was nach dem Weihnachtsfest geschieht? Ja, ein paar Tage lang würdest du wunderhübsch aussehen, aber wenn alles vorbei ist, wirst du sterben. Genau genommen ist dein Schicksal bereits besiegelt, in dem Augenblick, in dem du gefällt wirst. Man trennt dich von deinen Wurzeln und damit von der Möglichkeit, Nahrung aufzunehmen. Wenn du dann schwer behangen in irgendeinem Wohnzimmer stehst, werden deine Nadeln immer dürrer werden und bald schon abfallen. Und nach dem großen Lichterfest wirst du weggeworfen oder verbrannt."

"Irgendwann werden wir doch alle sterben müssen," meinte die kleine Tanne sorglos. "Und der bunte Christbaumschmuck ist bestimmt nicht schwerer als der Schnee im Winter, und den halten wir doch jedes Jahr aus."

"Aber der Schnee schmilzt, dann kommt der Frühling, und wir alle wachsen ein Stück. Ein gefällter Baum wächst nicht mehr, wird nie mehr zarte, junge Triebe haben. Ich bin froh, daß meine unteren Äste so dürr sind, da wird niemand auf den Gedanken kommen, aus mir einen Christbaum machen zu wollen. Ich werde sicher noch lange hier stehen dürfen und mich meines Lebens freuen."

Die kleine Tanne wurde nachdenklich. "Und was hast du von deinem Leben? Weihnachten wird die Geburt unseres Herrn gefeiert, es wäre doch eine große Ehre, ein Christbaum sein zu dürfen. Vielleicht würden die Menschen zu meinen Füßen sogar eine Krippe aufbauen."

"Na und?" Die große Tanne schien das kaum zu interessieren, aber die kleine redete aufgeregt weiter:

"Überlege doch, der Sohn unseres Schöpfers wurde in die Welt gesandt, um zu sterben: um zu sterben und damit die Menschen zu retten, deshalb wurde er geboren. Und da sollte ich Angst vor dem Tod haben? Es wäre das Schönste in meinem Lebens als Christbaum zu Ehren unseres Herrn zu dienen."

"Blöde, jugendliche Sentimentalität," argumentierte die alte Tanne. Am liebsten wäre sie weggegangen um das Geplappere der Kleinen nicht länger ertragen zu müssen. Aber ein Baum muß nun mal an seinem Platz bleiben, und so hatte sie keine andere Wahl, als weiter zuzuhören.

"Unser Schöpfer hat so viel für die Menschen getan, er hat ihnen seinen Sohn geopfert. Was ist schon mein kleines Leben gegen das von unserem Herrn," sagte die Tanne zuversichtlich. "Ich würde gerne ein Christbaum werden. vielleicht kann ich damit einen Beitrag leisten, daß die Menschen sich doch mehr auf unseren Herrn besinnen. Oft gehen Menschen durch den Wald, ohne zu bedenken, daß das alles nicht von selbst entstanden ist, sondern daß unser Schöpfer es voller Liebe gemacht hat. Ich wünschte die Menschen würden mehr an ihn glauben."

Die große Tanne schüttelte ungläubig ihre Zweige, und die kleine äugte weiter erwartungsvoll zu den Waldarbeitern. Würden sie sie in diesem Herbst fällen? Könnte sie dann Gott verherrlichen, indem sie sich opferte und zum Christbaum würde?

Die kleine Tanne konnte nicht selbst entscheiden. Wir Menschen müssen uns entscheiden.